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Der Traum vom autarken Gebäude: Es versorgt sich selbst mit Strom und kann nicht genutzten Strom anderen zur Verfügung stellen. Was vor ein paar Jahren noch unvorstellbar erschien, ist heute Realität.

Text: Jan van Rossem | Foto: Paal-André Schwital / ZEB Pilot House – Snøhetta Architecture and Design, Larvik (Norwegen); Dennis Hallinan / Alamy; Adrià Goula; Matthew Millman; Tobias Hein; NASA / GSFC / SDO / Wikimedia Commons; Zooey Braun; Adam Mørk | Video: Ade Wicaksono Pratami

Der Wirklichkeit ein Schnippchen zu schlagen, ist der Wunsch querdenkender Freigeister.

Eine der höchsten Ausformungen dieser visionären Begierde ist der Traum von der Existenz eines ganz besonderen Wunderwerks, eines sich selbst antreibenden und in Gang haltenden Geräts. Seit dem frühen Mittelalter sind Zeugnisse indischer Mathematiker bekannt, die sich, inspiriert von den kontinuierlichen Bewegungen der Himmelskörper, an der theoretischen Machbarkeit eines solchen Perpetuum mobile versuchen. Die Renaissance war in Europa eine Hochzeit dahin gehender Bemühungen – auch Leonardo da Vinci entwarf derartige Konstruktionen. Das Universalgenie sah aber bald die Aussichtslosigkeit solcher Unterfangen ein und konzentrierte sich alsbald auf Bildnisse geheimnisvoll lächelnder Damen. Auch zukunftsgläubige Architekten liessen sich von solchen Ideen anstecken. In der Nähe der norditalienischen Stadt Verona existiert noch die heute verlassene Villa Girasole von Angelo Invernizzi aus den 30er-Jahren, die sich wie eine Sonnenblume, so die Übersetzung des Namens, mittels aufwendiger mechanischer Vorrichtungen mit der Sonne drehen kann, um deren Kraft und Wärme optimal auszunutzen oder sich davor zu schützen.

Allerdings war diese originelle Konstruktion in energetischer Hinsicht ineffizient. Solche kinetischen Architektur-Preziosen sind nicht dafür geeignet, geforderte Energiestandards der Jetztzeit zu erfüllen. Doch seit einigen Jahren gibt es Zauberwörter, die der Erfüllung des Traums des eigenenergetischen Antriebs näherkommen: Manche sagen Plusenergiehaus, manche nennen es Aktiv-Plus-Haus. Beide Begriffe machen deutlich, worum es geht: mehr herauszubekommen als einzusetzen.

«Ziel ist die vollständige energetische Autarkie von Gebäuden.»

Das Prinzip Plusenergiehaus beruht auf drei Ansprüchen, die an Gebäude der Zukunft gestellt werden – denn klimatische Veränderungen und Ressourcenknappheit erzwingen energiepolitische Neuorientierungen gerade im Hausbau. Häuser sollen die Kraft der Sonne und weitere regenerative Energiequellen nutzen. Und sie sollen, daher die Bezeichnung, ein Plus an Strom erzeugen. Um das zu erreichen, müssen die Gebäude sensibel auf sich verändernde Parameter der Nutzung reagieren. Ein wesentliches Ziel ist die energetische Autarkie des Hauses. Zusätzlich soll es intelligent mit externen Energienutzern kommunizieren und nicht genutzten Strom zur Verfügung stellen.

B10 – Werner Sobek, Stuttgart

Ein Pionier für solche Kunststücke ist Werner Sobek.

Der Stuttgarter Architekt ist einer der international gefragtesten Bauingenieure. Er hat schon Projekte gemeinsam mit Grössen wie Sir Norman Foster, Helmut Jahn und Zaha Hadid realisiert, dozierte am Illinois Institute of Technology (IIT) in Chicago und ist Leiter des Instituts für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) an der Universität Stuttgart. Als Architekt plant Sobek pro Jahr ein Wohnhaus, das ihm meist als Experimentierplattform dient. Der Öffentlichkeit bekannt geworden ist er mit seinem eigenen Wohnhaus, waghalsig an den steilen Hang über der Stuttgarter City gebaut. Dort hat er bei der Planung für den im Jahr 2000 realisierten, rundum komplett verglasten Kubus schon das damals äusserst ambitionierte Ziel des Nullenergiehauses verfolgt. Der Bau ist hervorragend recycelbar und im Betrieb ein emissionsfreies Null-Heizenergie-Gebäude. Aber es ist noch kein Plusenergiehaus.

Naturstein, licht­durchlässige und doch vor der Sonne schützende Lamellen und clevere Holzkonstruktionen: Fab Lab House – IAAC-Institute for Advanced Architecture of Catalonia.

Aus rein ästhetischer Sicht sind Projekte wie B10 noch nicht der grosse Wurf. In dem besonderen Fall kam es eher auf die Einbindung in die historische Bauhaus-Siedlung an. Da ist ein schlichter weisser Quader durchaus eine passende Lösung. Deutlich expressiver macht sich bei seinem Plusenergiehaus das Büro Snøhetta ans Werk. Die Norweger haben sich 2001 international einen Namen gemacht mit dem spektakulären Neubau der legendären Bibliothek von Alexandria in Ägypten, bei dem sie das Hauptgebäude, einen elfstöckigen grauen Zylinderabschnitt aus Stein, schräg in den Boden versenkten.

Zu Snøhetta
Naturstein, licht­durchlässige und doch vor der Sonne schützende Lamellen und clevere Holzkonstruktionen: Fab Lab House – IAAC-Institute for Advanced Architecture of Catalonia.
Verschattungen, die Solarpaneele zur Stromerzeugung tragen, dienen der Hitzeregulierung: Energy Lab der Preparatory Academy auf Hawaii – Flansburgh Architects.

Dies hatte damals weniger energetische als ästhetische Gründe für die äussere Erscheinung und lichtführende für die Lesesäle. Bei ihrem ZEB Pilot House im norwegischen Larvik greifen sie die schiefe Ebene des Bibliotheksbaus auf. Ein holzverkleideter, dunkel gebeizter Korpus streckt sich dort im 19-Grad-Winkel gegen den Himmel. 150 Quadratmeter Photovoltaikpaneele und 16 Quadratmeter Sonnenkollektoren auf der Oberfläche, die das Dach bildet, sind in dieser Anordnung ideal zur Sonne ausgerichtet. Sie liefern bei guten Wetterverhältnissen rund 23000 Kilowattstunden pro Jahr.

Zur Bibliothek von Alexandria
Verschattungen, die Solarpaneele zur Stromerzeugung tragen, dienen der Hitzeregulierung: Energy Lab der Preparatory Academy auf Hawaii – Flansburgh Architects.

Auf positive Resonanz wird es ankommen, wenn die Plusenergiehäuser an Zustimmung bei potenziellen Bewohnern gewinnen wollen.

Und das sollen sie nach dem Willen der Gesetzgeber, zum Beispiel in der EU, die ab 2021 Niedrigstenergiehäuser als Neubaustandard festgelegt hat. Das Berliner Büro Graft hat in dieser Hinsicht ein Statement gesetzt. Graft, das sind die Partner Thomas Willemeit, Lars Krückeberg und Wolfram Putz, die schon mit Brad Pitt gemeinsam an dem Projekt für intelligente Unterkünfte in New Orleans für Opfer des verheerenden Wirbelsturms Katrina gearbeitet haben. Am Berliner Wannsee schufen sie drei Einfamilienhäuser unter dem Namen Holistic Living. Es kommen ausschliesslich ökologische Baustoffe zum Einsatz. Heizung und Warmwasser werden aus Erdwärme gewonnen, Grauwassernutzung und eine Regenzisterne sorgen für sparsamen Wasserverbrauch, eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung regelt Temperatur und Raumklima. Strom kommt aus der Photovoltaikanlage auf dem Dach und wird in einer Blockbatterie gespeichert. Auch aus gestalterischer Sicht hat sich das Berliner Büro ins Zeug gelegt: Ihm sind schnittige, moderne Blockhütten gelungen mit horizontalen Aussenlamellen, die sich geschmeidig um die Hausecken biegen. Drinnen sind die Häuser ebenerdig offen gestaltet mit einer Deckenhöhe von knapp drei Metern. Küchen- und Essbereich befinden sich auf gleicher Ebene, der Wohnraum mit Kamin ist um zwei Stufen abgesenkt. So entstand die Topografie einer modernen Höhle. Die Moderne bedient sich der Urzeit. Thomas Willemeit dazu: «Ein Haus braucht einen heissen Kern.»

Holistic Living – Graft, Berlin-Wannsee: Der Name der Häuser verrät es schon, hier geht es um ganzheitliches Wohnen, um umwelt- und ressourcenschonende Nachhaltigkeit. Die Häuser sind nahezu vollständig recycelbar, was sich positiv auf die Gesamtenergiebilanz auswirkt.

«Gebäude sollen auf veränderte Parameter der Nutzung reagieren.»

Es scheint, dass mit vereinten Kräften von Heiztechnikern, IT-Experten, Architekten und Klimaforschern tatsächlich eine Art Perpetuum mobile erschaffen wurde (wenn man einmal grosszügig über die permanente Zuführung von Sonnenenergie hinwegsieht). Den emsigen Forschern von früher, die an dieser grossen Aufgabe gescheitert sind, wäre eine andere unmögliche Idee der Menschheit zu wünschen gewesen, mit der sie ihren unerfüllten Traum doch hätten erleben können: die Zeitmaschine.