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Wie wirklich ist die virtuelle Realität?

MindMaze verknüpft Virtual Reality mit der Neurowissenschaft. Die bahnbrechenden Technologien, die CEO Tej Tadi und sein interdisziplinäres Team entwickeln, werden in der Medizin und bald in Games und im Film eingesetzt.

Text: Brigitte Ulmer | Foto: Robert Huber

Ein bisschen sieht Nicolas aus wie ein menschlicher Weihnachtsbaum:

Bunt leuchten die Lämpchen der Sensoren an Handgelenken, Ellbogen und Schultern. Hebt der junge Wissenschaftler die rechte Schulter oder den linken Arm, führt sein Doppelgänger auf dem Bildschirm simultan dieselbe Bewegung aus. Dem interaktiven Zusammenspiel liegt ein computergestütztes Bildgebungsverfahren der Lausanner Firma MindMaze zugrunde, das Schlaganfallpatienten bei der Rehabilitation unterstützt. Via Hybrid Tracking werden minutiös Fortschritte aufgezeichnet, wenn der Patient in Sisyphusarbeit seine gelähmten Körperteile trainiert. Die kleinste Bewegung bedeutet Hoffnung, denn sie zeigt an, dass sich die Nervenzellen, die wichtigsten Bausteine im Gehirn, langsam wieder vernetzen.

Die Technologie, die auf Virtual Reality (VR) aufbaut, heisst MindMotion.

CEO Tej Tadi, indischer Elektroingenieur und Neurowissenschaftler, der in Jeans und T-Shirt so locker wie der typische Tech-Entrepreneur wirkt, hat über zehn Jahre in die Entwicklung der Therapieplattform gesteckt. «Im Grunde geht es darum, dem Gehirn vorzutäuschen, dass eine Welt existiert, die so wirklich erscheint, dass man mit ihr real interagiert», sagt Tadi. Als er 2011 mit MindMaze das erfolgreichste Schweizer Start-up gründete, er-hielt die Gegend am Genfersee auch dank ihm den Übernamen «Health Valley».

Tadis Ziel: Die Technologien sollen medizinische Therapien einen Quantensprung voranbringen. Um sie weiterzuentwickeln, hat er ein Team aus Neurowissenschaftlern, Computeringenieuren und Softwareentwicklern um sich geschart, die nach neuen Applikationen forschen. Gerade setzt Nicolas’ Kollege Robert, Leiter der Abteilung Bio signale, die VR-Brille auf und taucht vollkommen ein in die alternative Realität. Er steht seinem Avatar gegenüber, der seine Mimik imitiert. Der MindMaze-Wissenschaftler fährt auch virtuell Autorennen oder bewegt ein Flugzeug – so können Patienten ihre motorischen Fähigkeiten trainieren. Therapeutisches Gaming ist das Schlüsselwort: Weil die Bewegungen der Patienten in Echtzeit übertragen werden, gestaltet sich das mühsame Training abwechslungsreicher. Das Hirn trainiert lustvoll seine verloren gegangenen Fähigkeiten.

Der Avatar macht Interaktionen zu einem echten emotionalen Erlebnis

Wenn Projektmanagerin Natascha zum Test eine blaue, mit Elektroden ausgestattete Kappe über ihren Kopf zieht, werden ihre Hirnströme gemessen. Die Überwachung per Elektroenzephalogramm (EEG) soll bei der physikalischen und neurologischen Rehabilitation helfen, das Anspruchsniveau der Übungen zu kontrollieren: Der Patient soll weder über- noch unterfordert werden. VR wird gemeinhin mit Video Games und Entertainment assoziiert: ein wachsender Milliardenmarkt, der Menschen zu Eskapismus und Zerstreuung dient. Schon heute katapultiert die VR-Technik ihre Nutzer in täuschend reale Erlebnisräume: Man kann damit den Mount Everest erklimmen, wie ein Vogel über London schweben oder mit Ex-US-Präsident Obama durch den Yosemite-Park wandeln.

Tadi will aber ernsthafte Probleme lösen und durch künstliche Welten reale Heilung bringen.

Dem Arztsohn, der im indischen Hyderabad aufwuchs und Elektroingenieur und Computerwissenschaften studierte, sind Spital- korridore und der Anblick kranker Menschen wohlbekannt. Die Erfahrung sensibilisierte ihn für die Fragilität menschlichen Lebens. Als er 2006 an die Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) kam, zog es ihn für seine Doktorarbeit wohl auch deshalb in die Neurowissenschaft. «Ich arbeitete in einem interdisziplinären Team aus Psychologen und Philosophen. So entstehen Innovationen: wenn ein Problem aus verschiedenen Perspektiven angegangen wird», sagt Tadi. Im EPFL-Labor legte er das Fundament zur Technologie, in der die Bewegungserfassung des menschlichen Körpers, ein dreidimensionales Feedbacksystem sowie Bildgebungsverfahren des Gehirns zusammenspielen. Es war die Keimzelle von MindMaze.

Tadi erzählt von einem Erlebnis, das ihn auf seinem Weg bestärkte, an der Schnittstelle von Mensch und Maschine zugunsten erkrankter oder verunfallter Menschen weiterzuforschen. Ein Patient, dem er begegnete, litt nach einer Amputation beider Hände unter starken Phantomschmerzen. Sein Gehirn empfing weiterhin Schmerzsignale, denn im Gehirn gibt es eine Art Abbild des ganzen Körpers, in dem die Empfindungen aus den Körperteilen verarbeitet werden. Mit MindMotion wurden seine fehlenden Hände simuliert. Der Patient setzte sich die VR-Brille auf, und er sah Hände an seinen Armen, die sich bewegten, als wären es seine eigenen. «Dem Hirn wurde vorgetäuscht, die Hände seien intakt. Mit der Zeit hörte es auf, Schmerzsignale zu senden», so Tadi. «Der Schmerz verschwand.»

VR mit Hirnforschung zum Mensch- Maschine-Interface kombiniert:

Was sich wie die Bausteine für eine Sequenz aus dem Film «Matrix» anhört, ist Realität; MindMaze hat dazu bereits Produkte auf den Medizinmarkt gebracht. «MindMotion beschleunigt, wenn die Therapie unmittelbar nach einer Operation eingesetzt wird, die neuronale Heilung», so Tadi. Es tönt wie ein Wunder: Wenn ein Patient nach einem Schlaganfall nur noch die rechte Hand bewegen kann, wird ihm ein Bild der unbeweglichen linken Hand auf den Bildschirm projiziert. Diese wiederum kann durch die bewegliche rechte Hand gesteuert werden. «Wir überlisten gewissermassen das Gehirn.» Die optische Täuschung stimuliert die neuronale Aktivität, fördert die Plastizität im Hirn und bringt die Nervenzellen dazu, auch den echten Arm wieder mit Signalen anzusteuern.

Die Verbindung von VR, Maschinenlernen und Neurowissenschaft verhilft auch gerade der neuesten MindMaze-Erfindung zum Durchbruch, Mask. So heisst die Technologie, die reale Gesichtsausdrücke mit einem digitalen Avatar synchronisiert. Sensoren, die in der VR-Brille integriert sind, zeichnen die Bewegungen der Gesichtsmuskeln auf und übertragen sie via elektrische Signale auf den Avatar. Lachen, Grimassen, Stirnrunzeln, Augenbrauen hochziehen: Bis zu zehn verschiedene Gesichtsausdrücke lassen sich auf die comicartigen Figuren schon übertragen. «Mask ist ein grosser Schritt vorwärts in der virtuellen Realität. Die Anwendung macht Interaktionen zu einem wirklichen emotionalen Erlebnis», sagt Tadi. Das Ziel sei, VR noch «menschlicher und damit noch realer zu machen».

Die Technologie liesse sich noch in einer ganzen Reihe weiterer Disziplinen anwenden.

Tadi hat noch viele Ideen: «Wellness, Sporttraining, Gaming: Wo immer gewünscht wird, eine täuschend reale Umgebung zu kreieren, um etwas zu erfahren oder gar ein Verhalten zu üben, während das Szenario kontrolliert werden kann.» Oder in der Psychotherapie – etwa bei Verhaltens- und Angststörungen, Traumabewältigung, Depressionen und Autismus.

Kritische Stimmen zu Virtual-Embodiment-Technologien sehen auch Risiken zur Manipulation, denn mit VR, die direkt mit dem Gehirn verbunden ist, kann man Wahrnehmung und Empfinden ummodellieren. «Im Zentrum muss immer die Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen stehen», hält Tadi dagegen. Er ist davon überzeugt, dass sich die Technologien weiter durchsetzen werden. «Sehen Sie uns als Intel. Wir bauen die Infrastruktur, auf denen andere aufbauen können», sagt Tadi. «Wir stehen erst am Anfang.»