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Ist saubere Luft eine Illusion?
Bepflanzte Wolkenkratzer, Dachgärten und begrünte Fassaden spenden Schatten, speichern Feuchtigkeit und schlucken Schadstoffe aus der Luft. Architekten und Stadtplaner entdecken das wuchernde Grün, um die Lebensqualität in urbanen Ballungsräumen zu steigern.
Text: Jan Oliver Löfken | Foto: unsplash.com (Annie Spratt)
Gräser, Farne, Krautgewächse, Orchideen und Veilchen
Rund 450 verschiedene Pflanzenarten gedeihen prächtig im One Central Park in Sydney. Es ist kein botanischer Garten, der sich hinter diesem Namen verbirgt, sondern ein 34-stöckiges Wohnhaus im Chippendale-Viertel inmitten der australischen Metropole. Der One Central Park gilt als Musterbeispiel für vertikale Gärten. Der Trend zu begrünten Bauten gewinnt rund um den Globus unter Architekten und Stadtplanern immer mehr Anhänger. Denn das geplant wuchernde Grün verbessert Raumklima und Energiebilanz der Gebäude und filtert zudem Schadstoffe aus der Stadtluft.
Das Projekt One Central Park in Sydney ist ein Musterbeispiel für grüne Gebäude. Insgesamt über 85 000 Pflanzen erstrecken sich auf bis zu 50 Meter hohen vertikalen Pflanzenteppichen an der Fassade.
Während des ganzen Jahres schlängeln sich grüne und bunt blühende Rankpflanzen über die 117 Meter hohe Fassade der 2014 eingeweihten Stadtoase. «Das Design eines vertikalen Gartens ist eine Mischung aus Wissenschaft und Ästhetik», sagt der französische Botaniker Patrick Blanc, der den Ruf als Vorreiter der Vertical Gardens geniesst. Gemeinsam mit dem Pariser Architekten Jean Nouvel konzipierte Blanc den One Central Park, wählte Hunderte geeignete Pflanzenarten aus, die etwa zur Hälfte nur in der australischen Fauna vorkommen. «Die richtige Pflanze am richtigen Platz», umreisst Blanc sein botanisches Konzept. Für die windigen und sonnigen Höhen in den oberen Stockwerken eignen sich eher robuste Gräser und Strauchgewächse. Zugleich spenden sie Schatten und entlasten so stromhungrige Klimaanlagen. Die mittleren Etagen bieten den Pflanzen mehr Schutz und dienen als Lebensraum für Ranken und empfindlichere Blütenpflanzen. In den unteren Geschossen mit geringerem Lichteinfall gedeihen am besten Farne, Rhododendren und Azaleenarten. Blanc nutzt für das Hochhaus-Biotop auch Arten, die in der Natur auf Felsen oder Bäumen ohne einen klassischen Pflanzboden aus Erde auskommen. «Erde dient sowieso nur als mechanische Grundlage», weiss Blanc. Denn eigentlich brauchen Pflanzen nur Wasser, Mineralien, Licht und Kohlendioxid für Wachstum und Fotosynthese. Ob in Tokio oder Paris, Riad, São Paulo oder New York – grösstenteils verzichtet Blanc bei seinen mehr als 300 Vertical-Garden-Projekten auf fruchtbare Erde. Wasser und Nährstoffe gelangen über ein ausgeklügeltes System kleiner Schläuche automatisiert direkt zu jeder Pflanze, die auf einem Substrat aus Basalt oder Mineralwolle wurzelt. Zusätzlich zu diesem wartungsarmen Hydroponik-System düngen sich die Pflanzen aus der Stadtluft sogar selbst – ein willkommener Nebeneffekt der Filterung von Feinstaub und Stickoxiden, die die Stadtluft belasten.
Weitere urbane Gärten, für die Patrick Blanc verantwortlich ist, sind die Pflanzenwand am CaixaForum (Madrid), die (Indoor-)Wand im KulturKaufhaus Dussmann in Berlin sowie Le Nouvel in Kuala Lumpur.
Sträucher und Staudengewächse gewährleisten über das gesamte Jahr ein feuchtes, gemässigtes Mikroklima und wirken lokal auch gegen den Hitzeinsel-Effekt, der Grossstädte gerade in Sommermonaten übermässig aufheizt.
Mehr Grün in den Städten zählt auch zu den Strategien für lebenswertere Metropolen, auf die sich die Weltgemeinschaft 2016 an der UN-Konferenz «Habitat III» in Quito (Ecuador) geeinigt hat. Denn so kann nicht nur die Luftqualität gesteigert, sondern auch mehr Treibhausgas aufgenommen und umgewandelt werden. Das ist dringend nötig, da urbane Räume für mehr als 70 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich sind. «Begrünte Wände sind nachweislich in der Lage, die Luft zu säubern», sagt Rob MacKenzie von der School of Geography, Earth and Environmental Sciences an der Universität Birmingham. Der Chemiker konnte in einer viel zitierten Studie bereits 2012 belegen, dass sich mit bepflanzten Fassaden die Konzentration an Feinstaub und giftigem Stickstoffdioxid sogar auf ein Zehntel senken lässt.
Das ambitionierte Via-Verde-Projekt in Mexico City hat sich zum Ziel gesetzt, 40000 Quadratmeter Grünfläche in Form von vertikalen Gärten anzulegen. Diese sollen bis zu 27000 Tonnen Schadstoffe abbauen können.
Zwölf Quadratmeter Grün: Der flexibel einsetzbare, senkrechte CityTree-Pflanzkasten ist nahezu wartungsfrei. Die Pumpe zur Bewässerung wird über integrierte Solarmodule betrieben.
Der Bosco Verticale (deutsch: vertikaler Wald) in Mailand besteht aus Zwillingstürmen, die auf rundum ausladenden Balkonen etwa 700 Bäume, 5000 Büsche sowie Tausende Rank- und Blütengewächse beherbergen.
Etwa zeitgleich zum One Central Park in Sydney entstand in Mailand der Bosco Verticale, ein vertikaler Wald, geplant vom italienischen Architekten Stefano Boeri. Für sein Projekt bestückte er zwei Wohngebäude – 116 und 85 Meter hoch – rundum mit ausladenden Balkonen. Deren Fläche bietet auf 20000 Quadratmetern insgesamt 700 Bäumen und 5000 Büschen Platz, stabil verpflanzt in knapp anderthalb Meter tiefen Betonwannen, ausserdem Tausenden Rank- und Blütengewächsen. 20 verschiedene Laub- und Nadelbaumarten und 80 zusätzliche Pflanzenarten suchte Boeri in Zusammenarbeit mit Botanikern der Universität Mailand aus. Zu jeder Jahreszeit wechselt der Bosco Verticale sein Aussehen und wird niemals kahl. Jedes Jahr absorbiert das Grün 20 Tonnen Kohlendioxid und gibt fast die gleiche Menge an Sauerstoff an die Stadtluft ab. Staubpartikel und Stickoxide aus Abgasen werden von den Pflanzen ebenfalls effizient aufgenommen. Nicht nur die Luftqualität steigt im direkten Umfeld des Gebäudes, auch die städtische Artenvielfalt profitiert von dem Projekt: Über 20 Vogelarten nisten in dem Biotop. Das Mikroklima rund um das Haus reduziert in heissen Monaten die Lufttemperatur um bis zu zwei Grad.
Das Konzept des Dragonfly Building, das der belgische Architekt Vincent Callebaut mitten in New York platziert, soll die Landwirtschaft revolutionieren. Fast 600 Meter hoch, soll es auf 132 Stockwerken Platz für Nutzpflanzen bieten.
Einen deutlichen Schritt weiter als bei vertikalen Gärten geht Architekt Stefano Boeri mit der Liuzhou Forest City in China. Dort soll eine komplett grüne Stadt insgesamt 30000 Einwohner beheimaten und jährlich 10000 Tonnen CO2 abbauen.
Der Prototyp-Bau in Mailand hat Stefano Boeri neben Architekturpreisen auch beachtenswerte Folgeaufträge eingebracht. Sein Konzept eines «lebenden Ökosystems zum Wohnen» findet sich in Villiers-sur-Marne, einem Vorort von Paris, und im niederländischen Utrecht. Im Süden Chinas, 300 Kilometer nordöstlich von Hongkong, entwirft der Architekt gar den Masterplan für eine ganze Stadt nach dem Vorbild seines Bosco Verticale. Liuzhou Forest City wird ab 2020 auf einem 175 Hektar grossen Areal für 30000 Bewohner entstehen. Wohnhäuser, Schulen, Behörden, Hotels und Krankenhäuser werden mit 40000 Bäumen, insgesamt mindestens eine Million Pflanzen und mehr als 100 verschiedenen Arten, begrünt. Smog, wie er in Peking und anderen chinesischen Metropolen auftritt, soll in der geplanten Waldstadt gar nicht erst entstehen. Denn die Pflanzen der grünen Stadtoase vermögen bis zu 57 Tonnen Feinstaub und 10000 Tonnen Kohlendioxid jährlich zu absorbieren. «Die Stadt der Zukunft kann nur eine grüne Stadt sein», sagt auch Alexandra Quint, Urbanistin und Expertin für nachhaltige Stadtentwicklung am Karlsruher Institut für Technologie. Sie fordert sogar Nutzpflanzen zur Kühlung an Gebäudefassaden. Auch bereits ausgebaute Städte können mit zusätzlichem Grün für eine höhere Lebensqualität sorgen. So absorbiert der CityTree vom Dresdner Start-up Green City Solutions zwar viel weniger Kohlendioxid und Feinstaub als die vertikalen Gärten und Wälder, dafür ist er aber auch deutlich günstiger und flexibel einsetzbar. Im senkrecht aufgestellten Pflanzkasten können auf zwölf Quadratmetern Moose und Stauden eingesetzt werden. Erste CityTrees in Stuttgart, Berlin und Hongkong absorbieren bis zu einer Hälfte des Feinstaubs und ein Achtel der Stickoxide aus der belasteten Stadtluft. Die begrünte Wand wird über eine mit Solarzellen betriebene Pumpe bewässert.
Der Lebensbaum (botanisch: Thuja) von der Familie der Zypressengewächse (Cupressaceae) ist eine robuste immergrüne Pflanzengattung, die mit drei Arten im östlichen Asien vorkommt.
Christian Ulrichs, Leiter des Bereichs Urbane Ökophysiologie der Pflanzen an der Berliner Humboldt-Universität, empfiehlt die Bepflanzung von Stadtmobiliar wie Bushaltestellen und Litfasssäulen. Wenn die Bewohner der Städte die Begrünung darüber hinaus selbst aktiv unterstützen, können eine bessere Luftqualität und hohe Artenvielfalt der Flora und Fauna sogar noch schneller erreicht werden als mit ausgeklügelten Neubauten und pfiffigen Erfindungen.
Die Amerikanische Gleditschie ist ein anspruchsloser und winterharter Baum. Je robuster die Pflanze, desto eher wird sie Wind und Sonne in oberen Stockwerken ausgesetzt.
Weltweit steigt die Zahl von Dachgärten mit Unterstützung von Non-Profit- Organisationen wie zum Beispiel Green Roofs for Healthy Cities in den USA. Stadtverwaltungen und Naturschutzvereine bieten Konzepte für eine nachhaltige und vor allem insektenfreundliche Balkonbepflanzung an. So kann eine Biodiversität entstehen, von der Landgemeinden mit weitläufigen Raps- oder Maisfeldern heute nur noch träumen können.