In keiner anderen Stadt der Welt wird Digitalität so konsequent gelebt wie in Tallinn. Alles, was hier neu entsteht, wird auch digital gedacht. Und was nicht zu digitalisieren ist, macht man halt nicht. Wie verändert das die Gesellschaft?
Text: Dirk Böttcher; Lea-Marie Kenzler | Foto: Matthias Ziegler
Wir wollen etwas über die Digitalisierung in Tallinn erfahren
und landen zunächst in Ecuador. Im Skype-Video erscheint Marten Kaevats in einem Hotelzimmer von Quito. In den 90er-Jahren war der Mann mit dem strubbligen Haar und dem ausgewaschenen T-Shirt Veloaktivist und Protestler. Heute arbeitet der Architekt und Stadtplaner als National Digital Adviser für die estnische Regierung. In Quito wird er heute vor der versammelten Elite des Dienstleistungsgewerbes von Lateinamerika zu digitalen Services sprechen. Die Digitalisierung ist der wichtigste und einzige Exportschlager Estlands.
Das kleine Land mit 1,3 Millionen Einwohnern setzt seit den 90er-Jahren konsequent auf eine digitale Strategie und wächst im Cyberspace längst über seine physischen Ländergrenzen hinaus. Kaevats nennt die Inhalte seiner Arbeit «the cool stuff». Das coole Zeug betrifft in seinen Augen vor allem die öffentliche Verwaltung.
«Für die digitale Steuererklärung brauche ich genau zwei Minuten.»
Während etwa andere Staaten beginnen, ihren Bürgern Formulare auch online zum Ausfüllen bereitzustellen, schafft man in Tallinn Antragsstellungen gerade ab. «Wir ersparen den Bürgern künftig im Zusammenspiel von Big Data und künstlicher Intelligenz die Zeit für das Ausfüllen von Formularen», sagt Kaevats. «Weil unsere Systeme von selbst erkennen, wer etwa einen Anspruch auf Kindergeld hat. Die Eltern erhalten zehn Minuten nach der Geburt ihres Kindes nur noch eine Mail, in der sie beglückwünscht und informiert werden, wann und in welcher Höhe die entsprechenden Beträge überwiesen werden.»
Indrek Õnnik ist Projektleiter im e-Estonia Showroom, dem digitalen Herzen der Stadt. Der Este referiert über papierlose Verwaltung, Online-Services und das Leben in einer digitalen Stadt.
In einem anderen Raum treffen wir Indrek Õnnik, Projektleiter des Informationszentrums. Er wischt über den Bildschirm seines Smartphones, Log-in via Handynummer, zwei weitere Klicks, und es erscheint ein ausgefülltes Formular: die digitale Steuererklärung. Überprüfen, bestätigen, fertig. Õnnik hält ein kleines Plastikkärtchen wie eine Trophäe in der Hand. Die ID-Karte ist das Symbol der digitalen Gesellschaft Estlands. Damit bezahlt man im Supermarkt, sammelt Treuepunkte, sie fungiert als Fahrzeugpapier, Führerschein und digitale Unterschrift. Zu Hause kann sich Õnnik über die ID-Karte auch ein Medikamentenrezept ausstellen lassen und nachvollziehen, wer wann auf seine «Health Data» zugegriffen hat. «Es gibt nur drei Dinge, die nicht online funktionieren», sagt Õnnik mit einem breiten Grinsen: «Heirat, Scheidung und der Kauf eines Grundstücks.»
Robert Krimmer ist Professor für E-Governance an der University of Technology. Für ihn ist Tallinn nur eine «ganz normale Stadt mit digitaler Option».
Für Prof. Robert Krimmer zeigt dieses Beispiel einen sehr wichtigen Wesenszug der Bevölkerung: «Es gibt keine Ängste vor digitalen Anwendungen, man versucht immer, die Chancen zu sehen. Entsprechend wird hier, was neu entsteht, immer digital gedacht und umgesetzt. Was sich nicht digitalisieren lässt, macht man halt nicht.» Der Österreicher lehrt an der Technischen Universität E-Governance. Tallinn beschreibt er als «ganz normale Stadt mit digitaler Option». Warum die Menschen in dieser Stadt so geschlossen der Digitalisierung folgen, erklärt Krimmer mit der Grösse des Landes: «Estland ist eine sehr kleine Gesellschaft, die immer schon eng vernetzt war; jeder kennt hier jeden.» Er vergleicht den Stellenwert der Digitalisierung mit dem von Mozart in seiner Heimat: «Mit dem Digitalen können sich alle Esten identifizieren.» Eine weitere Beobachtung, die er der Digitalisierung zuschreibt, ist das Tempo. «Die Gesellschaft ist rasend schnell geworden. Sich zwei Wochen im Voraus zu verabreden, werden Sie mit einem Esten nur schwer hinkriegen, denn da könnte ja noch so viel in der Zwischenzeit passieren.» Ein Forschungsfeld von Krimmer ist das E-Voting. In Estland wird seit 2005 online gewählt.
Die Tür hat keine Klingel, sie ist geschlossen
Die Tür zu Valdek Laur und Risto Hansen hat keine Klingel, sie ist geschlossen. Nur ein Anruf oder eine Zugangskarte bringt den Besucher zu ihnen. Laur und Hansen wirken wie junge Tüftler, die in Tallinn ihre Werkstatt gefunden haben. Die beiden sind angestellt bei der estnischen Regierung, im Team der EU-Präsidentschaft, zuständig unter anderem für Anwendungen des autonomen Fahrens. «Als unsere autonomen Busse im August vier Wochen durch die Stadt fuhren, waren sie die Attraktion, die Leute hatten einfach Spass, sie auszuprobieren.» Laur sagt, es sei wichtig, dass Menschen Zeit bekommen, neue Technologien kennenzulernen. «Der Schritt, selbstfahrende Autos in die Stadt zu integrieren, ist nun nicht mehr gross.» Laur glaubt auch, autonomes Fahren mache die Strassen sicherer. «Und es bringt die Leute zusammen. Wo heute nur einmal am Tag ein Bus aufs Land fährt, können Menschen schon bald mit einem selbstfahrenden Auto zum Arzt oder zu Freunden fahren. Das verbindet die Gesellschaft.» Herausforderungen, die anderswo Hindernisse sind, gehen die Esten umgehend an: «Wir entwickeln gerade einen rechtlichen Rahmen für selbstfahrende Fahrzeuge. Grundsatz wird sein, dass der, der das Auto fährt, verantwortlich ist, egal, ob er das Fahrzeug fahren lässt oder das Steuer hält.» Das estnische Unternehmen Guardtime hat zudem eine blockchainbasierte Lösung vorgeschlagen, um ein mögliches Hacking von selbstfahrenden und vernetzten Autos frühzeitig aufzuspüren und abzuwehren.
Valdek Laur kümmert sich als Adviser for Digital Solutions zum Beispiel um Mobilitätskonzepte mit autonom gesteuerten Fahrzeugen. Als Technologie-Enthusiast begeistert er sich aber auch für künstlich hergestelltes Fleisch oder Spielzeug aus dem heimischen 3D-Drucker.
Die Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge sagt viel über die Einstellung der Esten zu Sicherheit und neuen Technologien aus.
Prof. Jarno Limnéll, estnischer Experte für Cybersicherheit an der Universität Helsinki, ersetzt das Wort Sicherheit gern durch Vertrauen: «Ohne ein hohes Mass an Vertrauen können Sie keine digitale Gesellschaft aufbauen.» In anderen europäischen Staaten erlebe er oft Ängste, in Tallinn werde digitalisiert, was digitalisiert werden könne. «Die Bevölkerung ist überzeugt davon, dass die Regierung alles Nötige tut, um die digitale Infrastruktur zu schützen.» Es existiere auch eine gewisse Resilienz gegenüber möglichen Angriffen. «Die rührt daher, dass wir einerseits über alle Risiken informieren, andererseits auch dafür sorgen, dass die Bürger die nötigen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien besitzen.» Marten Kaevats hatte gesagt, dass sich in Estland sogar eine umgekehrte Mentalität zu der in den meisten anderen Staaten zeige: Digitale Verträge gelten als viel sicherer, Unterschriften auf Papier liessen sich schliesslich fälschen. Zur Mentalität der Stadt gehöre es auch, dass man sich im Beta-Zustand einrichte. «Wir tolerieren Fehler und Störungen, es gibt nicht die perfekte Lösung, sondern Beta-Versionen, die wir ständig verbessern.» Sich immer wieder auf Neues einzulassen, gehöre zum nationalen Curriculum.
Digitalisierung fängt schon bei den Kleinsten an. Deshalb nutzt fast jede estnische Schule das digitale Klassenbuch «eKool». Geschäftsführer Tanel Keres hat das System in die Schulen gebracht und steht auch selbst als Vater im digitalen Austausch über Noten, Hausaufgaben und Stundenpläne.
«Vertrauen werden wir zwischen potenziell Fremden aus aller Welt herstellen müssen.»
Die Hauptstadt des Cyberspace macht Herzklopfen. Das Unsichtbare in Tallinn wird hier greifbar. Marten Kaevats hatte gesagt, auch im Cyberspace bleibe die physische Präsenz wichtig, das gemeinsame Bier, das Treffen in der Stadt. Seine Aufgabe sei es, nicht nur digitale Technologien und Services zu installieren, sondern auch Communities um diese herum aufzubauen. Das Vorurteil, die virtuelle Welt würde die realen sozialen Kontakte aus dem Alltag der Menschen verdrängen, hält er einerseits für begründet – aber auch für leicht zu vermeiden. «Im virtuellen Raum lassen sich physische Zusammenkünfte viel einfacher organisieren.» Vor allem könne man schnell Gleichgesinnte für eine Idee gewinnen. Die Zukunft sieht Kaevats längst über die Stadtgrenzen hinauswachsen, er nennt es das Hyperlokale: «Eine Welt, in der der physische Ort unerheblich ist, weil sich auf die gesamte Welt von überall zugreifen lässt.» Dann werden die Menschen vielleicht die E-Residency in Estland annehmen, um ein Unternehmen zu gründen, in der Schweiz das Gesundheitssystem und anderswo die Banken nutzen. «Vertrauen werden wir dann zwischen potenziell Fremden aus aller Welt herstellen müssen», sagt Kaevats. Tallinn ist der Beweis dafür, dass das mit digitalen Technologien funktionieren kann.