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To Seoul

Stets ein Bit voraus: Keine Stadt der Welt verfügt über ein schnelleres Internet und ist so vernetzt wie die südkoreanische Metropole.

Text: Fabian Kretschmer | Foto: Julian Baumann; Schoolboy / Universal Republic Records; NoiseD / Wikimedia Commons; Christoph Schmidt / dpa / picture alliance

Wer das Wunder vom Han-Fluss begreifen möchte, sollte sich nach Gangnam begeben – jenem noblen Geschäftsviertel in Seoul, das durch den YouTube-Hit «Gangnam Style» des K-Pop-Sängers Psy weltweite Berühmtheit erlangte.

Wo noch in den 70er-Jahren Reisfelder, Ochsenkarren und kleine Bauernhütten die Szenerie bestimmten, säumen mittlerweile neonbeleuchtete Bürotürme 14-spurige Schnellstrassen. Das Gros der koreanischen Konzerne ist in Gangnam angesiedelt, die edelsten Nachtclubs und exklusivsten Designerboutiquen. Nirgends zeigt sich der Aufstiegswille der Koreaner deutlicher als auf diesen knapp 40 Quadrat-kilometern. Es ist kein Zufall, dass auch der Internetriese Google vor drei Jahren hier seinen ersten Campus in Asien eröffnete.

Michael Kim, 34, mit einer Dekade Silicon Valley auf dem Buckel schon ein Tech-Veteran, empfängt uns in seinen lichtdurchfluteten Büroräumen, die alle typischen Insignien kalifornischer Start-ups aufweisen: Industriegaragen-Look mit offener Innenarchitektur, Kickertische, Café. An den Holztischen sitzen Endzwanziger an ihren aufgeklappten Laptops, entgegen den konservativen Dresscodes koreanischer Unternehmen dominieren T-Shirts, Sneakers und Jeans. Dass Google Seoul als Standort gewählt hat, klingt in Kims Worten wie eine folgerichtige Entscheidung: «Wenn man sich weltweit anschaut, was ein Start-up erfolgreich macht, dann braucht man dafür drei Dinge: Talent, Infrastruktur und eine gewisse Unternehmenskultur. Hier haben wir alles davon im Übermass.» Ein Blick auf die Statistik gibt dem Google-Manager recht: Südkorea hat mit fast 70 Prozent die höchste Rate an Universitätsabsolventen aller OECD-Länder, das Bildungssystem rangiert in den gängigen Studien stets an der Spitze. «Innovatives Denken ist tief in der Kultur verankert», sagt Kim. «Viele der brillantesten Ideen kommen ursprünglich aus Seoul, nicht aus dem Valley.» Fünf Jahre bevor Facebook gegründet wurde, brachten koreanische Entwickler 1999 mit Cyworld das erste sozialeNetzwerk der Welt auf den Markt. Und ehe You-Tube unseren Filmkonsum revolutionierte, konnten Koreaner auch schon auf Pandora TV Videos streamen. «Korea ist dem Zeitgeist stets einen Schritt voraus, die Leute denken ständig über die Zukunft nach», sagt der Google-Manager.

«Innovatives Denken ist tief in der Kultur verankert.»

Für Michael Kim, Asien-Pazifik-Manager Google for Entrepreneurs, ist Seoul mehr als nur ein Arbeitsaufenthalt: Der gebürtige US-Amerikaner aus San Francisco möchte den Rest seines Lebens in der Heimat seiner Eltern verbringen.

Zu Seoul
In Seoul kommt das Internet selbst in den modernsten Vierteln per Glasfaser-Freileitung in die Haushalte. Doch das ist nur der ästhetische Aspekt: Mit durchschnittlich 28,6 Megabit pro Sekunde verfügt Südkorea über das schnellste Internet der Welt.

Die Zentrale von Koreas führendem Telekommunikationsanbieter KT wirkt von aussen wie ein schmuckloser Funktionsbau in ermattetem Ocker. Drinnen jedoch lässt sich ein Blick in die Zukunft erhaschen: Hyung-joon Kim begrüsst uns zum Interview in einem ovalen Showroom, der mit seinem LED-beleuchteten Boden aus einer Science-Fiction-Filmkulisse stammen könnte. Virtual-Reality- Brillen hängen an den Wänden, in der Mitte des Saals ragt das Seouler Stadtzentrum als Miniatur-Hologramm aus einem Schaltpult. Hyung-joon Kim leitet die globalen Geschäfte von KT. Der gelernte Banker stellt uns das Mobilfunknetz der nächsten Generation vor: 5G heisst das Zauberwort, das laut dem Vize-CEO unseren Alltag revolutionieren wird. Während der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang im Februar testete KT das weltweit erste 5G-Probenetzwerk und führte dabei neuartige Dienste ein, erzählt Kim. Etwa den Interactive Time Slice: Beim Skispringen installierte KT insgesamt 100 Kameras, deren Bildinformationen zu einem revolutionären Fernseherlebnis verschmelzen.

In Seoul kommt das Internet selbst in den modernsten Vierteln per Glasfaser-Freileitung in die Haushalte. Doch das ist nur der ästhetische Aspekt: Mit durchschnittlich 28,6 Megabit pro Sekunde verfügt Südkorea über das schnellste Internet der Welt.
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Die Wandlungsfähigkeit spiegelt sich in der Architektur des Seouler Rathauses wider: Es ist ein futuristisch geschwungener Glasbau in Form einer riesigen Welle. Nachdem wir eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben haben, fahren wir in das dritte Untergeschoss – und landen in einem Atomschutzbunker.Nichts ahnend werden wir an den Konflikt mit Nordkorea erinnert, dessen Grenze nur eine Autostunde entfernt liegt. Sollte Kim Jong-un jemals das Stadtzentrum Seouls mit Nuklearsprengköpfen bedrohen, würden die Regierungsbeamten in den Keller-anlagen des Rathauses Unterschlupf finden. In Friedenszeiten fungieren jene Räume als logistisches Herzstück des Ballungsraums von 25 Millionen Menschen: Im Transport-Informationszentrum wird dank Big Data der öffentliche Verkehr der Stadt gesteuert, werden Unwetterschäden verhindert und die Sicherheit der Bürger gewährleistet. Stolz zeigt Leiter Youn-gye Yang, ein enthusiastischer älterer Herr, das Tablet, mit dessen Hilfe er Überflutungen vorhersehen, Hitzewarnungen an die Bevölkerung schicken oder zur Winterzeit per Bodenheizung den Strassenfrost schmelzen lassen kann. Yangs Schaltzentrale besteht aus einer 20 Meter breiten Leinwand und mehreren Dutzend Computerplätzen.

Seouls Metro gilt als eines der effizientesten öffentlichen Verkehrssysteme der Welt. Täglich werden über sieben Millionen Passagiere transportiert. Eine Fahrt kostet umgerechnet nur etwas über einen Franken, bezahlt wird elektronisch mit einer Smartcard.
Youn-gye Yang leitet das Transportation Information Center der Seouler Stadtregierung. Von seinem Schaltraum aus kann er dank Big Data den gesamten Stadtverkehr steuern. 813 Überwachungskameras überblicken die Metropole.

«Als ich aufwuchs, waren Seouls Strassen so verstopft, dass eine Fahrt durch die Stadt oft zum Tagestrip ausartete», sagt der Regierungsbeamte. Erst 1971 baute die Stadtverwaltung den ersten Bahnhof, heute zählt Seouls Metro mit 23 Pendlerlinien und über sieben Millionen Passagieren täglich zu den effektivsten weltweit. Youn-gye Yang demonstriert mit ein paar Klicks die Gimmicks dieser Schaltzentrale: Wie viele Taxis derzeit Kunden chauffieren (23566), die Anzahl der Busse oberhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung (92), oder ob er vergessen hat, sein Wohnzimmerfenster zu schliessen (nein) – mithilfe von 813 Überwachungskameras und deren integriertem Super-Zoom kann Yang praktisch auch in den hintersten Winkel des Stadtgebiets spähen.

Youn-gye Yang leitet das Transportation Information Center der Seouler Stadtregierung. Von seinem Schaltraum aus kann er dank Big Data den gesamten Stadtverkehr steuern. 813 Überwachungskameras überblicken die Metropole.

Am letzten Abend unserer Recherche treffen wir uns mit Angie Cho, die als Kolumnistin über die neuesten digitalen Gadgets schreibt. Sie trägt eine Baseballcap mit integrierten Bluetooth-Kopfhörern. Auf dem Tisch liegt ein Notizheft mit Kugelschreiber. Der Stift ist mit einer Kamera ausgestattet, die die Schrift direkt ins E-Mail-Programm ihres Tablets umsetzt. Die stärksten Internetprodukte, meint Angie Cho, verbinden digitalen Komfort mit dem Gefühl der analogen Welt: «Wenn ich Ferien in Europa mache, beobachte ich fasziniert, wie wenig Technik die Menschen in ihren Alltag integrieren. Doch spätestens nach einem Tag vermisse ich wieder die Geschwindigkeit und den technischen Komfort von Seoul.»

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